Zufallsfoto

Literaturpreisträger 2022 Platz 2.

Eingereicht von Tronja Kiefer, Marktdorf. Alle Rechte am Text liegen bei Tronja Kiefer. Nutzung und Veröffentlichung nur mit ausdrücklicher Genehmigung durch Tronja Kiefer.

Losgelöst

Bestimmt schon hunderte Male war ich in dem Café gewesen. Hatte bestimmt schon hunderte Male an meinem Stammplatz am Fenster Platz genommen und bestimmt auch schon hunderte Male meinen heiß geliebten Himbeertee bestellt. Eigentlich waren meine Besuche stets dem gleichen Muster gefolgt. Nachdem ich mich gesetzt und einen Blick nach draußen geworfen hatte, wurde meine Bestellung aufgenommen. Jedes Mal die selbe Abfolge. Auch heute war es so gewesen. Mit dem einzigen Unterschied, dass es nicht die junge Inhaberin, sondern ihr Mann war, der abwartend und mit aufgeschlagenem Notizblock vor mir stand. Stumm starrte ich ihn an, als hätte er zwei Köpfe. Wo war seine Frau? Vor meinem inneren Auge tauchte die kleine, zierliche Gestalt mit den langen, rotblonden Haaren auf. Sie war eigentlich eine sehr hübsche Person, auch wenn einem das nicht sofort auffiel. Ich selbst hatte einige Zeit gebraucht, um es zu bemerken. Das lag an den Augen. Gefühlvolle, traurige Augen. Das Melancholische in ihnen, die Leere, das Abgestumpfte, warfen ihren Schatten auf ihre feinen Züge. Erst vor kurzem hatte ich den Grund für ihren Kummer erkannt und verstanden. Sie hatte einen sehr feinfühligen Charakter. Was ihr Mann zu nutzen wusste. Sie war unglücklich mit ihm. Aus gutem Grund. Es war nicht so, dass er sie schlug, oder verbal fertigmachte. Er betrog sie nicht einmal. Seine Mittel waren viel subtiler, unauffälliger. Vor ein paar Wochen hatte, bei einem meiner Aufenthalte, die Kaffeemaschine den Geist aufgegeben. Gerade als sie sie verwendete. Ihr Ehemann war zum Begutachten dazu geholt worden. Doch statt dem Fehler auf den Grund zu gehen, seufzte er nur vielsagend. Er lehnte sich an den Tresen und seufzte noch einmal. Abgrundtief. Das Geräusch erzählte von einem langen, mühevollen Leidensweg, einer Resignation gegenüber der Faupas seiner Frau. Seine Miene war unnachahmlich gramgebeugt. Ihr standen sofort Tränen in den großen Augen. Das zu sehen, hatte mir einen Stich versetzt. Ich erinnerte mich an die Szene, als wäre es gestern gewesen. Mit einem schweren Schlucken wandte sie sich ab und eilte aus dem Raum. Augenblicklich breitete sich ein amüsiertes Grinsen in seinem Gesicht aus. Selbstzufriednen blickte er ihr hinterher. Ihre Reaktion war überraschend, unangemessen, überzogen. Auffällig. Von da an achtete ich genauer auf das Verhältnis zwischen den beiden. Sobald er in ihr Sichtfeld kam, duckte sie sich weg. Die Schultern hochgezogen, den Blick unterwürfig gesenkt. Sie kuschte bei jeder Kleinigkeit, stets bemüht es ihm recht zu machen. Trotzdem machte sie anscheinend immer etwas falsch, was er ihr durch sein bezeichnendes Seufzen verdeutlichte. Sie trug die Schuld, an allem. Er war enttäuscht von ihr, wegen allem. Nur selten schenkte er ihr ein Lächeln oder ein freundliches Wort. Und wenn, dann warf er es ihr hin, wie man ein Stück Fleisch einem ausgehungerten Hund hinwerfen würde. Und genau wie dieser Hund, stürzte sie sich auf jeden noch so kleinen Happen. Klammerte sich an die allerkleinste Geste. Sie sog sie förmlich in sich auf, brauchte sie zum Leben, wie die Luft zum Atmen. Sie war emotional völlig abhängig von ihm. Und er wusste das. Daher wusste er auch, dass sie ihn nicht verlassen würde. Obwohl es ihr bei ihm nicht gut ging. Oder etwa doch? Wo war sie heute? Jetzt, in diesem Moment? Hatte sie den Sprung vielleicht doch gewagt? Die Worte lagen mir auf der Zunge, trotzdem dauerte es noch einen Moment, bis ich es schaffte sie auszusprechen. „Wo ist ihre Frau?“ fragte ich unverblümt. Sein Gesicht verfinsterte sich. Leise grummelte er etwas in sich hinein. „Wie bitte?“ hackte ich lauter, sicherer, nach. Genervt nahm er Haltung an und antwortete gereizt: „Sie hat mich verlassen.“ Es war als wäre mir eine schwere Last von den Schultern genommen worden. Freude durchflutete mich. Sie hatte es also tatsächlich geschafft, hatte sich von ihm losgesagt. „Tut mir leid“, sagte ich, stand auf und drängte mich an dem verdutzten Kerl vorbei. „Ich werde erwartet.“ Beschwingt durchquerte ich das Café, schlängelte mich an den anderen Gästen vorbei und trat aus der Eingangstür, ein Lächeln auf den Lippen.

Tronja Kiefer

Kreuzgasse 47a

88677 Markdorf